Verweltlichung

بسم الله الرحمن الرحيم

زُيِّنَ لِلنَّاسِ حُبُّ الشَّهَوَاتِ مِنَ النِّسَٓاءِ وَالْبَن۪ينَ وَالْقَنَاط۪يرِ الْمُقَنْطَرَةِ مِنَ الذَّهَبِ وَالْفِضَّةِ وَالْخَيْلِ الْمُسَوَّمَةِ

وَالْاَنْعَامِ وَالْحَرْثِۜ ذٰلِكَ مَتَاعُ الْحَيٰوةِ الدُّنْيَاۚ وَاللّٰهُ عِنْدَهُ حُسْنُ الْمَاٰبِ

„Anziehend erscheint den Menschen die Liebe zu Begehrenswertem: zu Frauen und Kindern, (angehäuften) Reichtümern an Gold und Silber, ausgezeichneten Pferden und Viehherden und Saatfeldern. Dies sind Genüsse für das diesseitige Leben. Doch bei Gott ist die schönste, erstrebenswerteste Heimstatt.“[1]

                       لَوْ أنَّ لِابْنِ آدَمَ وادِيًا مِن ذَهَبٍ أحَبَّ أنْ يَكونَ له وادِيانِ

In einer Überlieferung unseres Propheten (F.s.m.i): „Wenn der Mensch ein Tal voller Gold besitzen würde, würde er sich wünschen ein zweites Tal voller Gold zu besitzen.“[2]

Ehrenwerte Musliminnen und Muslime! Unsere Predigt handelt von der Verweltlichung, welche das religiöse Leben zermürbt.

Verweltlichung bedeutet, sich der Anziehungskraft der Welt hinzugeben und ihr Gefangener zu werden. Es steht im Gegensatz dazu, das Leben und Denken auf die Religion auszurichten. Die Verweltlichung ist ein Prozess, der im umgekehrten Verhältnis zur Religiosität steht: Ein Zuwachs an Weltbezogenheit führt zu einem Rückgang an Religiosität, und ein Zuwachs an Religiosität führt zu einem Rückgang an Weltbezogenheit. Dabei handelt es sich nicht um ein plötzliches Ereignis, sondern um einen fortlaufenden Prozess. Verweltlichung hat unterschiedliche Dimensionen und Ausprägungen, und jeder Mensch erlebt diesen Zustand in unterschiedlichem Maße.

Die Verweltlichung ist für Muslime eine gefährliche Katastrophe. Genauso wie das Feuer das Holz verbrennt, der Rost das Eisen zerfrisst, lässt die Verweltlichung den Menschen innerlichen faulen.

Der Gesandte Gottes (F.s.m.i) brachte seine Sorgen in Bezug auf seine Glaubensgemeinschaft wie folgt zum Ausdruck: Eines der Dinge, vor denen ich Angst habe, ist, dass sich euch nach mir die weltlichen Annehmlichkeiten und der Schmuck der Welt eröffnen und ihr euch in eurem Herzen an sie verliert.“[3]

Die Prophetengefährte, welche die Warnungen unseres Propheten beherzigten, haben sich zu dieser Thematik stets hinterfragt, auch wenn sie ihr Leben im Erlaubten Rahmen verbracht haben.

Eines Tages fragte Ebū Bekr (Gott habe Wohlgefallen an ihm) nach etwas zum Trinken. Daraufhin wurde ihm wurde ihm Wasser und Honig angeboten. Als er dies sah weinte er so sehr, sodass die Menschen um ihn herum auch weinten. Als gefragt wurde, wieso er geweint hat, antwortete er: „Eines Tages sah ich unseren Propheten wie er mit seinen Händen etwas wegschob, was ich nicht sah. Ich fragte ihn was er tat. Er antwortete: „Oh Ebū Bekr, die Welt hat Gestalt angenommen und wollte sie selbst mir aufdringen, ich habe es nicht angenommen und mit meinen Händen weggeschoben. Das weltliche drehte sich um und sagte: „Du hast dich vor mir errettet, aber die nach dir kommen, werden sich vor mir nicht erretten können.“[4] Die Furcht von Ebū Bekr bestand darin, zu jenen zu gehören, denen die Welt sich durch das Trinken des Wassers und das Essen des Honigs aufdrängt und die sie dadurch annimmt. Aus diesem Grund weinte er lange und intensiv.

Zu dieser Thematik können wir ein weiteres Beispiel heranziehen: Als die Enṣār erfuhren, dass Ebū Ubeyde ibn el-Djerrāḥ mit bedeutenden Reichtümern aus Bahrain zurückgekehrt war – wo er zur Einziehung der Dschizya entsandt worden war –, zeigten die Worte des Propheten (F.s.m.i.) dass seine größte Sorge für seine Umma die Verweltlichung war.

Nachdem der Prophet (F.s.m.i) das Morgengebet verrichtet hatte und die Gefährten sich um ihn versammelten, sagte er: „Ich vermute, ihr habt gehört, dass Ebū Ubeyde etwas gebracht hat. Freut euch und erwartet Dinge, die euch erfreuen werden. Bei Gott, ich fürchte für euch in Zukunft nicht die Armut. Vielmehr fürchte ich, dass euch – wie den Gemeinschaften vor euch – die Reichtümer dieser Welt geöffnet werden, dass ihr miteinander darum wetteifert, dass sie euch zerstören, so wie sie auch jene zerstört haben.“[5]

Gott der Erhabene hat unsere Welt schön und anziehend erschaffen und zugleich in der menschlichen Natur eine Neigung zu ihr gelegt. Wenn nun diese Anziehungskraft der Welt mit der inneren Neigung des Menschen zusammentrifft, entsteht ein Spannungsfeld des Anziehens und Hineingezogenwerdens. In einer solchen Situation gibt sich der Mensch der Welt hin – und der Prozess der Verweltlichung  beginnt.

Der Mensch, der die Güter dieser Welt eigentlich zur Befriedigung seiner Bedürfnisse nutzen sollte, wird leider nach einer gewissen Zeit zum Gefangenen des Materiellen. Der Besitz dieser Welt legt sich ihm um den Hals wie ein Eisenkragen um den Hals eines Sklaven. Die Schönheit und Verlockung der Welt erschöpfen nach und nach das religiöse Leben des Menschen und entfernen ihn von Gott. Das Problem besteht hier nicht darin, Besitz zu haben – sondern darin, zum Sklaven des Besitzes zu werden. Aus islamischer Sicht ist es nicht verwerflich, dass der Mensch legitime Dinge liebt und anstrebt[6].

Wie es Mewlānā Rūmī ausdrückt: Der Besitz soll für den Menschen wie das Wasser für ein Schiff sein – es lässt das Schiff schwimmen, aber darf nicht ins Innere eindringen. Denn wenn es eindringt, bringt es das Schiff zum Sinken.

Nachdem über die vergangenen Propheten und der Gemeinschaften die ihre Dienerschaft gegenüber Gott erfüllt haben, heißt es im Koran: „Dann folgten ihnen Generationen, die das Gebet vernachlässigten und vergeudeten und (ihren) Begierden nachgaben (und den Dienst an Gottes Sache aufgaben). Sie werden dem Untergang preisgegeben (wie es ihnen gerechterweise zusteht).“[7] Dieser Vers verdeutlicht die ersten zwei Stufen der Verweltlichung. Zunächst die Vernachlässigung, der Gottesdienste, allen voran des Hauptgebets. Die Zweite Stufe verdeutlich das sehnen nach niederen Begierden. Der Koran verzeichnet in diesem Vers keine Situation, die sich nur auf vergangene Gemeinschaften bezieht, es ist gleichzeitig eine Warnung an alle Generationen, die zum Tag der Auferstehung kommen werden.

Ehrte Musliminnen und Muslime!

Auch das Begehen von Sünden ist in gewissem Maße eine Form der Verweltlichung und der inneren Entfremdung. In einem Hadith sagt der Gesandte Gottes (F.s.m.i):

„Wenn ein Mensch eine Sünde begeht, entsteht in seinem Herzen ein schwarzer Punkt. Wenn er bereut, mit der Sünde aufhört und um Vergebung bittet, wird sein Herz wieder hell. Wenn er jedoch nicht bereut und weiterhin sündigt, vergrößert sich dieser Fleck, bis er schließlich das ganze Herz bedeckt.“[8]

Daraus erkennen wir: Wenn das Herz eines Menschen einmal verschmutzt ist, lässt sich kaum abschätzen, wohin diese Öffnung führen wird. Das Wort: „In jeder Sünde liegt ein Weg in die Richtung der Verkennung Gottes“ weist ebenfalls auf diese Wahrheit hin. Denn die Sünde ist eine Krankheit, die die natürliche Veranlagung und die innere Ordnung des Menschen verfälscht – sie entfernt den Menschen also von seiner wahren Natur und führt somit zu einer inneren Entfremdung.

Dass der Koran dieses Thema so eindringlich anspricht und der Prophet (F.s.m.i) wiederholt darauf hinweist, liegt darin begründet, dass dieser Weg – wenn er unbeachtet bleibt – bis zur Verkennung Gottes führen kann. So berichtet der Koran an mehreren Stellen davon, dass Menschen aufgrund ihrer Liebe zur Welt – die ihnen wichtiger war als das Jenseits – in den Unglauben gefallen sind.[9] Gläubige sollten deshalb stets wachsam und vorsichtig sein – denn Verweltlichung und innere Veränderung gleichen dem Gehen auf dünnem Eis. Man kann jederzeit ausrutschen und fallen. Daher sollten wir keine Angelegenheit – sei sie auch äußerlich unbedeutend wie Kleidung oder Auftreten – geringachten. Vielmehr müssen wir uns stetig geistig nähren, innerlich wachsam bleiben und in allen Belangen Wege finden, unser wahres Selbst zu bewahren – und diesen Weg entschlossen gehen.

Möge Gott uns die Gnade schenken, unsere Welt und unser Jenseits zu gestalten, ohne der Verweltlichung zu verfallen.


[1] Sure ʾāl ʿimrān 3:14

[2] Muslim, Zekāt, 117

[3] Buchārī, Zekāt, 47

[4] Ḥakim, Mustedrek, IV, 344

[5] Buchārī, Djenāʾiz, 72

[6] Sure el-Baqara, 2:165

[7] Sure Meryem 19:59

[8] Tirmiḏi, Tefsīr el Muţṭafifīn

[9] Sure Ibrāhīm 14:3 ‚ Sure en Naḥl 16:105-107

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