Stärkung des Willens

بسم الله الرحمن  الرحيم

الٓمٓۚ (1) أَحَسِبَ النَّاسُ أَنْ يُتْرَكُوا أَنْ يَقُولُوا آمَنَّا وَهُمْ لَا يُفْتَنُونَ (2)

1. Alif. Lām. Mīm.

2. Meinen die Menschen etwa, dass sie unbehelligt (sich selbst überlassen) bleiben, wenn sie lediglich sagen: “Wir glauben”, und dass sie nicht auf die Probe gestellt werden?[1]

Ehrenwerte Musliminnen und Muslime!

In unserer heutigen Predigt geht es um die Stärkung des Willens und um lähmende Aspekte.  Der Wille ist die Kraft bzw. die Neigung, etwas zu tun oder es zu unterlassen. Es ist also die Mühe, oder die Anstrengung zwischen zwei Sachen zu entscheiden. Tatsächlich ist der Wille nur eine gewöhnliche Bedingung (şart-ı âdî), damit sich Gottes Erschaffung und Manifestieren manifestieren. Bei dieser gewöhnlichen Bedingung besteht nach dem Prinzip der Kausalitätsentsprechung keine Gleichwertigkeit zwischen Ursache und Wirkung.

Man kann dafür Beispiele nennen wie: dass aus einem Samenkorn eine große Tanne entsteht, dass aus einem Ei ein Küken schlüpft, oder für jemanden, der die vorbereitenden Prozesse im Hintergrund nicht kennt, dass durch das Drücken eines Schalters eines Stromnetzes ganze Städte erleuchtet oder in Dunkelheit gehüllt werden.

In solchen Fällen kann von einer wirklichen Beziehung zwischen Ursache und Wirkung überhaupt keine Rede sein. Unter normalen Umständen wäre es unmöglich, dass diese Ursache jenes Ergebnis hervorbringt.

Wie auch immer das Wesen des Willens beschaffen sein mag, da Gott bestimmte Dinge auf ihn gegründet hat, muss man ihm Beachtung schenken und dem Willen seinen gebührenden Platz geben. Gott hat unsere Zukunft auf unseren Willen gegründet, das heißt, unser Wille ist gewissermaßen ein Plan oder Entwurf für unsere Zukunft. Deshalb betrachten wir die Vergangenheit im Hinblick auf das „Schicksal“ und die Zukunft im Hinblick auf den „Willen“. Vielleicht wird Gott, wenn Er über unsere Zukunft bestimmt, Sein Urteil auf der Grundlage jener kleinen Handlungen fällen, die wir mit unserem Willen vollbracht haben.

Im Hinblick auf die Beziehung zwischen Willen und Prüfung gibt es noch eine weitere Seite der Angelegenheit: Wir sollten unsere eigenen Pflichten erfüllen und uns keinesfalls in das einmischen, was zur erziehenden Herrschaftsrecht Gottes gehört. Ja, auch das ist wiederum eine Frage des Willens. Denn, dass wir uns nach Dingen sehnen, die Gott tun soll, überschreitet die Grenzen unseres eigenen Willens. Zudem kann das Begehren nach Dingen, die unsere Kraft und Fähigkeit übersteigen, letztlich dazu führen, dass wir in Verzweiflung geraten und die Prüfung verlieren.

Als Celaleddin Harzemsah in den Krieg zog, sagten seine Wesire zu ihm: „Du wirst siegreich sein!“
Er aber antwortete, dass er seiner Pflicht nachgehe und das Ergebnis in Gottes Hand liegt. Letztlich ist die Dienerschaft unserer Aufgabe, sich gegenüber Gott, sei es auch nur innerlich, so zu verhalten, als würde man mit Ihm verhandeln, etwa nach dem Motto: „Wenn ich das tue, wirst Du dann das tun?“, kann auf keinen Fall innerhalb der Grenzen wahrer Dienerschaft betrachtet werden.

Der Wille muss ständig gestärkt werden. Dafür sind Bittgebete und die Bitte um Vergebnung zwei äußerst wichtige Faktoren. Die Bitte um Vergebung kappt die Wurzel der Neigung zum Bösen, Bittgebete stärken die Neigung zum Guten.

Das die bitte um Vergebung, die Wurzel der Neigung zum Bösen abschneidet, bedeutet: Reue über vergangene Sünden, die Standhaftigkeit in der Gegenwart zu bewahren, und für die Zukunft eine klare, entschlossene Haltung gegenüber der Sünde

Einzunehmen, mit anderen Worten: im eigenen Gewissen wahrhaft zu spüren, dass man sich Gott zugewandt hat. Ein solche Bitte um Vergebung ist wie ein Zauber oder ein Elixier, das jede Wurzel des Bösen und jede Neigung zum Bösen abschneidet. Der Mensch, der durch das Bittgebet in Beziehung zur unendlichen Barmherzigkeit Gottes tritt, stützt sich auf Seine Macht, stellt sich unter Seinen Schutz und wird so davor bewahrt, in die Abgründe der Triebhaftigkeit hinabzustürzen.

Ehrwürdige Gläubige!


Es gibt viele Hindernisse, die die menschliche Seele lähmen und dem willensstarken Menschen den Weg versperren. Eines dieser Hindernisse ist ohne Zweifel die Unterwerfung unter die Begierden und die Gelüste des Körpers, das Sichbeugen vor den Wünschen des Essens, Trinkens und anderer sinnlicher Neigungen. Der Gesandte Gottes (F.s.m.i) hat sich niemals an Bequemlichkeit oder Körperlust geklammert. Selbst wenn er vor Hunger ohnmächtig wurde oder vor Durst brannte, überwand er all diese Schwierigkeiten mit seiner Willenskraft und erreichte mit Gottes Gnade und Huld den von ihm angestrebten Punkt.

Die Worte unserer Mutter ʿĀʾischa (möge Gott mit ihr zufrieden sein) spiegeln das Leben des Propheten (F.s.m.i) in beeindruckender Weise wider: „Manchmal vergingen zwei Monate, ohne dass in unserem Haus der Herd angezündet  oder Wasser zum Kochen gebracht wurde.“ Eines Tages fragte mein Neffe ʿUrwa: „Tante, was habt ihr denn gegessen und getrunken?“ Ich antwortete: „Zwei Schwarze: Wasser und Datteln.“

Das Verlangen nach Rang und die Sucht nach Ruhm gehören zu jenen schlechten Eigenschaften, die das Herz mit Teer überziehen und die Seele lähmen.
„Ruhm gleicht einem vergifteten Honig. Wenn du in dieses Unglück gerätst, dann sprich: Wir gehören Gott, und zu Ihm kehren wir zurück  und rette dich.“ Menschen mit starkem Willen schenken keiner anderen Ehre oder Würde Beachtung als derjenigen, die aus der Zugehörigkeit zu Gott entsteht.

In den Worten von ʿUmar ibn al-Ḫaṭṭāb: „Gott hat uns durch Seine Religion geehrt.“ Nach anderer Ehre zu streben, sei vergeblich. Ein weiteres Hindernis ist Stolz und Selbstüberhebung. Die Propheten, die als „vorbildliche Menschen“ gesandt wurden, und die Willenshelden, die ihnen folgten, sagten niemals „meine Ehre und mein Stolz“ und ließen sich nie von ihrem persönlichen Ansehen oder Ehrgefühl leiten. Der Prophet Abraham (Friede sei mit ihm) erlitt jede Art von Demütigung, Mühsal, Unglück und Prüfung; er wurde ins Feuer geworfen, doch dieser große Prophet sagte nie: „Meine Ehre ist verletzt worden“, sondern hielt ununterbrochen an seiner erhabenen Sendung fest.

Der Prophet Mose (Friede sei mit ihm) wuchs in Würde und Ehre auf, doch angesichts der Prüfungen sagte er nie: „Meine Ehre, mein Stolz!“ und gab seine prophetische Mission nicht auf; vielmehr trat er vor den Pharao, stellte ihn zur Rede und verkündete dort den Ein-Gott-Glauben.

Der leidensvolle Prophet Jesus (Friede sei mit ihm) wurde in der Blüte seines Lebens von seinem Volk mit dem Tod bedroht, er wurde auf vielfältige Weise verhöhnt und sogar hungernd und durstig zurückgelassen. Doch er blieb nicht bei diesen Qualen stehen, sagte nie „meine Ehre, mein Stolz“ und hielt selbst im Schatten des Kreuzes an seiner Aufgabe fest.

Eine weitere Gefahr, die den Menschen mit starkem Willen bedroht, ist das Gefühl der Angst. Ja, wenn es ein Gefühl gibt, das den Siegesgeist des Willens lähmt, dann ist es die Furcht. Die Weltlichen haben sich schon immer diese Schwachstelle der Gläubigen zunutze gemacht  und tun es noch.

Der Gesandte Gottes (Friede und Segen seien mit ihm) wurde den härtesten Formen solcher Drohungen und Angriffe ausgesetzt. Nach dem Tod seines Onkels Ebū Ṭālib, als die Götzendiener kollektiv zum Angriff übergingen, sagte der Prophet (F.s.m.i) in  tiefer Trauer: „Du hast deine Brust geöffnet und mich beschützt. Wie schnell hast du mich deine Abwesenheit spüren lassen, oh mein Onkel!“

Doch er (F.s.m.i) sprach, wie auch schon zuvor, weiterhin: „Gott genügt uns; Er ist der beste Beschützer.“ Und er überwand alle Hindernisse und setzte seinen Weg fort.

Möge der Erhabene Gott unsere Willenskraft stärken und uns sowie unsere Nachkommenschaft davor bewahren, an den genannten Hindernissen zu scheitern und zugrunde zu gehen. Amin!


[1] Sure el ʿAnkebūt 29:1-2

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