
بِسْمِ اللّٰهِ الرَّحْمَنِ الرَّحِيمِ
وَيُؤْثِرُونَ عَلَى أَنْفُسِهِمْ وَلَوْ كَانَ بِهِمْ خَصَاصَةٌ وَمَنْ يُوقَ شُحَّ نَفْسِهِ فَأُولَئِكَ هُمُ الْمُفْلِحُون […]
„[…] ja sie geben ihnen sogar den Vorzug vor sich selbst, auch dann, wenn Armut ihr eigenes Los ist. Wer immer vor seiner eigenen Habgier bewahrt bleibt – das sind wahrlich die Erfolgreichen.“[1]
Ehrenwerte Musliminnen und Muslime! Unsere heutige Predigt handelt von der Selbstlosigkeit (ʾ īṯār), also leben um andere leben zu lassen.
ʾ īṯār Es bedeutet, dass der Mensch andere sich selbst vorzieht, seinen Geschwistern den Vorrang gibt und nicht für die Freuden des eigenen Lebens, sondern für die Freude, andere leben zu lassen, existiert. Dieser Punkt, also dass der Gesandte Gottes (F.s.m.i.) und die Gefährten anderen sich selbst vorgezogen haben, wird im Koran wie folgt als Beispiel und Vorbild dargestellt:
„Sie geben Nahrung, auch wenn sie sie selber noch so sehr benötigen, bereitwillig an den Bedürftigen und an das Waisenkind und an den Gefangenen (indem sie sagen): “Wir geben euch allein Gott zuliebe zu essen; wir erwarten von euch weder Vergeltung noch Dank (wir wünschen uns nur, dass Gott es von uns annimmt). 10. Wir fürchten wahrlich gar sehr den Tag unseres Herrn, (einen Tag) des Stirnrunzelns und der Strenge (gegen die Schuldigen).” Deshalb wird Gott sie gewiss bewahren vor dem Übel dieses Tages und ihnen strahlendes Licht und Freude gewähren.“[2]
ʾ īṯār sollte ein ethisches Prinzip sein, welches nicht im Überfluss stattfindet, sondern auch in Zeiten der Knappheit bzw. Dürre. Ebenso wie das voreilige Erzürnen bei möglichen Fehlverhalten und die Fähigkeit, Fehler und Mängel schnell zu verzeihen , dieser Punkt wird im Koran wie folgt beschrieben:
„Jene, die bereitwillig hingeben (von dem, womit Gott sie versorgt hat), sowohl in Freud als auch in Leid, und die stets ihren Zorn zähmen (selbst wenn sie gereizt werden und Vergeltung üben könnten) und den Menschen (ihre Beleidigungen) verzeihen. Gott liebt (solche) Menschen, die sich bemühen, Gutes zu tun, und sich bewusst sind, dass Gott sie sieht.“[3]
Ein Mensch mit einer von Selbstlosigkeit geprägten Moral zieht es nicht vor zu leben, sondern leben zu lassen ʾ īṯār darf nicht nur auf Dinge wie Essen, Trinken oder Kleidung beschränkt werden. Auch dann, wenn es um Ämter, Positionen oder um weltliche oder jenseitige Vorteile geht, ist es von großer Bedeutung im Sinne des ʾ īṯār Anderen den Vortritt zu lassen. All diese Entscheidungen sollten selbstverständlich mit dem Ziel getroffen werden, das Wohlgefallen Gottes zu erlangen. Wie eindrucksvoll und schön ist doch das folgende Verhalten von ʿUmar ibn el-Khaṭṭāb (r.a.): Als der Prophet (F.s.m.i) seine Seele dem Jenseits übergab, versammelten sich die Gefährten rasch, um sich auf einen Imam zu einigen, damit der Gemeinschaftsgeist nicht zerbricht, der Satan keinen Keil treiben kann und die islamische Gesellschaft nicht auseinanderfällt. Ebū Bekr (Gott habe Wohlgefallen an ihm) pries die Vorzüge ʿUmars und brachte seinen Wunsch zum Ausdruck, ihm den Treueid zu leisten und ihn zum Kalifen zu ernennen. Doch ʿUmar zögerte nicht, ergriff sofort die Hand von Ebū Bekr und sagte: „Wenn jemand nach dem Gesandten Gottes (F.s.m.i) die Führung übernehmen soll, dann ist es Ebū Bekr“, und leistete ihm den Treueid. Sich selbst sogar in der Führungsfrage zurückzunehmen und Anderen den Vortritt zu lassen, ist eine besonders bedeutende Form von ʾ īṯār und Selbstlosigkeit vielleicht sogar eine, die weit über materiellen Nutzen hinausgeht.
Unser ehrenwerter Prophet (F.s.m.i) ist nach seiner Nachtreise (Miʿrādj) zu uns zurückgekehrt, um die Gaben die er dort gesehen, gehört und gespürt hat, seiner Glaubensgemeinschaft mittzuteilen. Obwohl er wusste, dass er unzählige Leiden, Sorgen erfahren wird, ist zu Menschheit zurückgekehrt. Dies verdeutlicht uns die höchste Stufe des ʾ īṯār, der Selbstlosigkeit die erreicht werden kann.
In dem Werk Bedʾu el ʾemālī von dem Gelehrten el – ʾ ūschī heißt es, dass jene Gläubige im Jenseits geehrt werden, indem sie Gott sehen, wodurch sie die Gaben des Paradieses vergessen. Der große indische Gelehrte ʿabd el – Quddūs sagt zur Nachtreise folgendes: „Ich schwöre bei Gott, Muhammed (F.s.m.i) hat das Unerreichbare erreicht und das Unsichtbare gesehen. Er gelangte an Orte, an die kein Mensch zurückkehren kann, wenn er sie einmal erreicht hat. Ich schwöre bei Gott, wäre ich dorthin gelangt, ich wäre nicht zurückgekehrt Der Gesandte Gottes (F.s.m.i) war ein herausragendes Vorbild im Verkörpern des Geistes des ʾ īṯār (Selbstlosigkeit). In jeder Angelegenheit war unser Prophet ein wahrer Held der Selbstlosigkeit auch dann, wenn er etwas selbst gebraucht hatte, behielt er Geschenke nie für sich, sondern verschenkte sie stets weiter.
Dem Gesandten Gottes (F.s.m.i) wurde einmal ein kleiner schwarzer Mantel mit Streifen und Karomuster gebracht. Er fragte seine Gefährten, die bei ihm waren: „Wen haltet ihr für am würdigsten, diesen Mantel zu bekommen?“ Die Anwesenden schwiegen. Daraufhin sagte er: „Bringt mir Ummu Khālid.“ Ummu Khālid wurde daraufhin zum Propheten (F.s.m.i) gebracht, und er zog ihr den Mantel an. Dann sprach er zweimal ein Bittgebet: „Möge er an dir alt werden und mögest du einen neuen dafür bekommen.“ Er betrachtete die gelben (oder roten) Streifen auf dem Mantel und sagte, um die Schönheit des Gewandes zu betonen: „Sanāhu, sanāhu, o Ummu Khālid!“ Das Wort Sanāhu bedeutet in der äthiopischen Sprache: „schön“.[4] In Bezug auf Kleidung zeigte der Prophet (F.s.m.i) bereits ein hohes Maß an ʾ īṯār (Selbstlosigkeit), doch in Angelegenheiten, die das Essen betrafen, war er noch viel weiter. Trotz seines großen Haushalts und eigener Bedürfnisse sehen wir, dass der Gesandte Gottes die vorhandenen Nahrungsmittel in seinem Haus sofort an Bedürftige verteilte. Unsere Mutter ʿĀ’ischa (möge Gott mit ihr zufrieden sein) berichtet: „Der Gesandte Gottes (F.s.m.i) hatte eines Tages ein Schaf schlachten lassen und angeordnet, dass sein Fleisch an Arme verteilt werden solle. Irgendwann fragte er: ‚Was ist von dem Fleisch übrig geblieben?‘ Wir antworteten: ‚Nur ein Schulterblatt ist noch da.‘ Daraufhin sagte der Prophet – und zeigte damit die höchste Stufe des ʾ īṯār, folgendes: ‚Dann sag doch: Bis auf das Schulterblatt ist das ganze Schaf unser geworden!‘“[5]
Ehrenwerte Musliminnen und Muslime!
ʾ īṯār ist eine Lebensart die bewusst mit dem eigenen Willen gelebt wird. Es ist die Wahl der Not, trotz des Reichtums. Die Überlieferungen zeigen klar, dass der Gesandte Gottes (F.s.m.i) trotz des materiellen Wohlstands, der nach den Eroberungen durch gestiegene Einnahmen eintrat, seinen Lebensstil nicht änderte. So aß er nie drei Tage hintereinander Weizenbrot, bis er satt wurde, und in seiner Küche wurde mitunter tagelang kein Feuer entfacht , ein Zeichen seiner schlichten und bescheidenen Lebensweise.
Er (F.s.m.i) lebte sein ganzes Leben lang in freiwilliger Selbstlosigkeit (ʾ īṯār), führte ein asketisches Leben (Zuhd) und verwendete all seinen Besitz dafür, anderen das Leben zu ermöglichen.
ʾ īṯār gehört zu den wichtigsten Werten, die wir verloren haben. Die heutigen Probleme lassen sich nicht allein durch politische Spielchen oder durch die Strategien von Denkfabriken lösen. Wenn es ein „Elixier“ gibt, das zersplitterte und entfremdete Gesellschaften wieder vereinen kann, dann ist es der Geist der Selbstlosigkeit, der Aufopferung und der Nächstenliebe, der in den Herzen neu erblühen muss.Was wir tun müssen, ist, uns wieder dem Ideal des vollkommenen Menschen zuzuwenden und mit dem Geist des ʾ īṯār und der Moral der Aufopferung dem Ideal „der edelsten Stufe menschlicher Schöpfung“ gerecht zu werden.
Möge Gott uns zu wahren Menschen machen! Möge Gott uns auf den geraden Weg rechtleiten!
[1] Sure el – Ḥaschr 59:9
[2] Sure el- insān 76:8-11
[3] Sure āl ʿimrān 3:134
[4] Buchārī, libās 22-32
[5] Tirmiḏi, Qiyama 33