Das Recht zu wählen und die Verpflichtung

بِسْمِ اللّٰهِ الرَّحْمَنِ الرَّحِيمِ

وَالَّذينَ اسْتَجَابُوا لِرَبِّهِمْ وَاَقَامُواالصَّلٰوةَۖ وَاَمْرُهُمْ شُورٰى بَيْنَهُمْۖ وَمِمَّا رَزَقْنَاهُمْ يُنْفِقُونَۚ

Und diejenigen, die dem Aufruf ihres Herrn Folge leisten und Ihm gehorchen (in Seinen Geboten und Verboten) und das Gebet entsprechend seinen Vorschriften verrichten und die ihre Angelegenheiten in gegenseitiger Beratung regeln und die von dem hingeben, womit Wir sie versorgt haben (um für den Unterhalt Bedürftiger zu sorgen, und für Gottes Sache);

Sure 42 Vers 38

Ehrenwerte Musliminnen und Muslime!

Eines von den wichtigen Geboten, die im Koran vorkommt, ist die gegenseitige Beratung. In dem rezitierten Vers wird die Tatsache aufzeigt, dass neben den Eigenschaften der Gläubigen wie Gebet und Spenden auch das Prinzip der  gegenseitigen Beratung erwähnt wird, deutlich, dass die Beratung ein wichtiges Prinzip für Individuen, Familien, Gesellschaften und den Staat ist.

In einem Wohnhaus kommen die Eigentümer zusammen und treffen gemeinsame Entscheidungen über alle Belange des Hauses – sei es die Müllentsorgung, der Garten, die Parkflächen, Gemeinschaftsbereiche, Reparaturen, Renovierungen oder andere notwendige Angelegenheiten. Verhaltensweisen, die der Hausordnung widersprechen, werden nicht geduldet, und diejenigen, die gegen die Regeln verstoßen, werden entsprechend sanktioniert. Die Bewohner dieses Hauses haben sich auf eine gemeinsame Ordnung geeinigt, um in Frieden zusammenleben zu können. Dabei spielt es keine Rolle, welche Religion, ethnische Zugehörigkeit oder welches Geschlecht ein Nachbar hat. Wichtig ist, das Leben im Rahmen der Menschenrechte und -freiheiten auf eine würdevolle Weise zu gestalten. Es ist das natürlichste Recht und zugleich die Pflicht eines jeden Hausbewohners, sich an der Hausverwaltung zu beteiligen und seine Meinung zur Aufrechterhaltung von Frieden und Ordnung im Gebäude zu äußern. Wer sich weigert, an der Verwaltung teilzunehmen, seine Meinung zu äußern oder sein Stimmrecht auszuüben, begeht einen Fehler, indem er seinen eigenen Willen nicht zum Ausdruck bringt. Gleichzeitig bringt er sich in die Lage, Entscheidungen akzeptieren zu müssen, die von der Verwaltung getroffen wurden, auch wenn sie nicht in seinem Sinne sind.

Ebenso ist das Land, in dem wir leben, unser Zuhause, unsere Heimat. Der Frieden, die Freiheit und das würdevolle Zusammenleben der Bürger dieses Landes sind nur durch ihre aktive Mitwirkung an der Regierung möglich. Die Verfassung kann im größeren Maßstab mit einer Hausordnung verglichen werden – sie zielt darauf ab, die Freiheit, den Frieden und das Wohl der Bürger zu schützen und enthält die dafür notwendigen Werte. Auch die föderalen und lokalen Parlamente kann man mit einem Verwaltungsausschuss eines Wohnhauses vergleichen. Die Demokratie wiederum ist das Wertesystem, das die Regeln für Abstimmungen, Meinungsäußerung, Beratung und Entscheidungsfindung festlegt. Die Teilnahme am demokratischen Prozess ist sowohl unser Recht als auch unsere Pflicht.

Auch in der Sunna unseres Propheten (Fsmi) wird der Bedeutung der Beratung große Aufmerksamkeit geschenkt. Der Gesandte Gottes (ﷺ) pflegte in Angelegenheiten, für die es keine eindeutige Offenbarung (Nass) gab, mit Männern und Frauen, Jungen und Alten gleichermaßen Beratung zu halten.Er betonte die Bedeutung des gemeinschaftlichen Denkens in allen Lebensbereichen – von der Entscheidung der Eltern über das Abstillen eines Kindes bis hin zur Führung eines Staates, bei der die höchste Entscheidungsinstanz mit kompetenten Personen Beratung hält.

Der Schlüssel zum Glück im individuellen, familiären und gesellschaftlichen Leben der Menschen ist die Beratung (Meşveret). Wer nach diesem Prinzip handelt, verwandelt seine Umgebung durch die geschaffene Atmosphäre von Einheit, Zusammenhalt, Vertrauen und Liebe in ein wahres Paradies. Unser Prophet (ﷺ) sagte: “ 

      مَا نَدِمَ مَنِ اسْتَشَارَ

“Wer konsultiert, wird es nicht bereuen.”

Taberani, 2/175

In einer anderen Überlieferung heißt es: “ Ich habe niemanden gesehen, der mit seinen Gefährten genausoviel konsultiert wie der Gesandte Gottes”. (Tirmizi, Cihad, 34)

Die rechtgeleiteten Kalifen und die edlen Gefährten haben in allen gesellschaftlichen Angelegenheiten auf Beratung zurückgegriffen – sei es bei der Zusammenstellung des Korans als Buch oder bei der Wahl eines Herrschers. Sowohl in sozialen als auch in religiösen Fragen war die Beratung stets maßgebend. Auch wenn es nicht explizit so benannt wurde, haben sie eine Art Republik und eine Form demokratischer Verwaltung als Grundlage akzeptiert.

 Dies im Widerspruch zum Islam zu sehen, ist eine falsche Auslegung und eine unzutreffende Sichtweise. Sowohl der Islam als auch die Demokratie teilen grundlegende Werte und Prinzipien wie Beratung (Schura), Gerechtigkeit, Religionsfreiheit, den Schutz der Rechte von Individuen und Minderheiten, das Recht eines Volkes, seine eigene Regierung zu wählen, die Rechenschaftspflicht der Herrschenden und die Unzulässigkeit der Unterdrückung einer Minderheit durch die Mehrheit oder umgekehrt. All diese Prinzipien sind zugleich Gebote des Islam. Aus diesem Grund haben die Gelehrten der frühen Generationen stets darauf bestanden, dass Herrscher gerecht sein müssen. Sie haben ihre Stimmen abgegeben und ihre Meinungen geäußert – einige von ihnen, wie der ehrenwerte Imam Ebū Ḥanīfa, wurden sogar aufgrund ihrer Ansichten getötet. Auch Imam Mālik, der sagte: „So wie eine erzwungene Ehe ungültig ist, ist auch eine erzwungenes Treueid nichtig,“ erlitt Verfolgung für seine Überzeugungen. Ebenso wurde unser verehrter Imam Hussein (Gott habe Wohlgefallen an ihm) wegen seines Widerstands gegen Ungerechtigkeit und seiner Überzeugungen zum Opfer. Die islamische Geschichte ist voller Helden, die sich nicht scheuten, ihre Meinung zu äußern, sich gegen Tyrannei auflehnten und für Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit sowie eine republikanische und demokratische Regierungsform eintraten.

So sagte eins Bediüzzaman: „Ohne Brot kann ich leben, aber ohne Freiheit nicht.“ Als das Mehrparteiensystem eingeführt wurde, gab er seine Stimme der Oppositionspartei, die gegen die damals unterdrückende Regierungspartei stand. Da er nicht die Kraft hatte, selbst zur Wahlurne zu gehen, bat er darum, dass man die Wahlurne zu ihm bringe. Als dies jedoch nicht geschah, ließ er sich auf den Schultern seiner beiden Schüler zur Wahlurne tragen und gab so seine Stimme ab.

Ein weiterer großer Erneuerer und Imam, der in die Ewigkeit eingegangen ist, wurde einst gefragt: „Sind Sie dagegen, bei Wahlen eine Partei zu wählen?“

Er antwortete: „Nein, ganz im Gegenteil! Ich habe den Menschen in den Moscheen immer gesagt: ‚Geht wählen! Das ist euer Bürgerrecht. Zeigt eure Präferenzen! Tragt sogar eure Kranken auf Tragen zur Wahlurne, und gebt eure Stimme ab. Egal, für wen ihr stimmt – aber stimmt unbedingt ab! Das Volk soll sich daran gewöhnen. Die Demokratie soll sich daran gewöhnen.‘“ Damit unterstrich er die Notwendigkeit der Teilnahme am demokratischen Prozess. Das Land, in dem wir leben – die Bundesrepublik Deutschland – ist eine Demokratie, die ihren Bürgerinnen und Bürgern das Recht gewährt, ihre Religion frei auszuüben. Auch Muslime sind verpflichtet, im Rahmen demokratischer Prinzipien und universeller Werte die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu respektieren. Sie werden ihre Meinung auf demokratischem Wege gegenüber den gewählten Vertretern zum Ausdruck bringen. Eines der wichtigsten Mittel dafür ist die Teilnahme an Wahlen. Dies ist nicht nur ein demokratisches Recht, sondern für Muslime auch eine Verantwortung. Indem sie ihr Wahlrecht nutzen, verhindern sie, dass Menschen, die die Menschenrechte und religiösen Freiheiten missachten und von Hass, Wut und Feindseligkeit erfüllt sind, an die Macht gelangen. So tragen sie dazu bei, den Frieden, die Sicherheit und ein würdevolles Zusammenleben in diesem schönen Land zu gewährleisten.

Möge der Erhabene Gott uns helfen, dieses Recht auf die bestmögliche Weise zu nutzen! Wir bitten den Allerbarmer, dass die bevorstehenden Wahlen gute und segensreiche Ergebnisse für unser Land bringen. Amin

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